Seite 112



Saron sortierte die Post, die während seiner Abwesenheit eingegangen war. Der Haufen mit der Werbung war schon recht groß, als er einen handgeschriebenen Brief entdeckte, dessen Absender ihm unbekannt schien. Er öffnete ihn und las.

"Lieber Saron,
du kennst mich wahrscheinlich nicht, ich bin vor einiger Zeit mal ein Stück Wegs mit Dir gewandert, als Du uns von Deinem Gottesbild erzählt hast und mit den Worten E. Cardenal sagtest: weil Gott auf dem Grunde einer jeden Seele wohne, könne die Seele nur mit Göttlichem angefüllt werden, oder so ähnlich. Ich habe inzwischen so einiges über Gott gelesen, habe nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es Gott nicht gibt. Gott ist nur eine Projektion(1) der positiven Eigenschaften des Menschen in ihrer höchsten und reinsten Form. Die negativen Eigenschaften behält der Mensch für sich selbst, weil er sich eher mit ihnen verbunden fühlt, oder er projiziert sie auf einen "Teufel". Daher sagst du, ist der Mensch von Anfang an schlecht, weil er sich so denkt. Und indem er die allerbesten Eigenschaften Gott zuschreibt, ist der ein Wesen, das unendlich klug, freundlich, hilfsbereit ist und uns vor unseren negativen Eigenschaften, also vor uns selbst schützt. Offenbar hat der Mensch Angst vor den höchsten positiven Eigenschaften, traut sie sich nicht zu und projiziert sie als sein Gottesbild. Von diesem erbittet er sie dann zurück, also im Grunde von sich selbst, denn sie sind schon in ihm, nur weiß er das nicht.
Der Mensch erfährt sich als vergänglich, fehlerhaft, böse, ohnmächtig, sündhaft, also als das schlechthin Böse.
Deshalb denkt er sich Gott als unvergänglich, fehlerfrei, gut, mächtig, heilig also als das Gute in höchster Potenz.
Und du hast recht Saron: Gott entsteht in jeder Seele immer wieder neu, er ist ein Teil der menschlichen Unzulänglichkeit. Je minderwertiger ein Mensch sich fühlt, desto mehr braucht er diesen Gott in sich und je mehr ein Mensch zu den göttlichen Höhen, z.B. der perfekten Nächstenliebe aufsteigt, desto lieber nennen wir ihn einen "Heiligen", also einen Gott ganz nahe Stehenden, wie etwa Mutter Theresa, Gandhi, Luther King etc.. Religion ist, vereinfacht ausgedrückt, Hinwendung des Menschen zu sich selbst und Gott ist dann ein ausgelagerter Teil des Menschen, zu dem er spricht, wenn er z. B. betet. Und der Glaube an den Opfertod Jesu bedeutet nur, wer sich für andere hingibt, handelt nach den höchsten, also göttlichen Maßstäben. Der Glaube an die Auferstehung drückt nur den Wunsch des Menschen nach Unsterblichkeit aus.
Sorry Saron, aber ich wollte Dir das gerne schreiben, weil Du Dir solche Mühe gegeben hast, uns das Wirken Gottes zu erklären. Das hat mich angesprochen und ich habe einfach weitergedacht! Dir und Deiner Frau alles Gute. Liebe Grüße aus X"

























(1) "Projektion", Begriff aus der Psychologie. S. Freud verstand unter Projektion einen Abwehrmechanismus, bei dem eigene unerwünschte Triebe, Wünsche, Gefühle, einem anderen Menschen, einem Tier oder Gegenstand zugeschrieben werden. Siehe: HIER, HIER und HIER