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Saron hielt inne, denn sie waren an eine Kreuzung gekommen, an der zu ihrer Freude ein alter Wegweiser das Ziel der verschiedenen Wege anzeigte. Sie entschlossen sich, zu einem nahen Weiler zu gehen, in der Hoffnung, dort eine Gelegenheit zum Mittagessen zu finden. Sie wurden nicht enttäuscht. Als sie etwa eine Stunde fast schweigend gewandert waren, gelangten sie in die kleine Ortschaft, in der es tatsächlich ein Gasthaus gab, das ein Tagesgericht anbot. Nachdem sie gegessen und sich ausgeruht hatten, fragten sie den Wirt nach einem Wirtshaus im Wald, von dem Saron gehört hatte, dass man dort gut die Nacht verbringen konnte. Er erklärte ihnen den Weg dorthin und sogleich zogen sie los, um noch vor Einbruch der Dunkelheit ihr Ziel zu erreichen. Sie hatten gerade das letzte Haus der Ortschaft hinter sich gelassen, als die Frau den Faden ihres Gespräches wieder aufnahm. "Saron", fragte sie, "war dir und deiner Gefährtin schon zu Beginn eurer Beziehung diese Unauflösbarkeit der Ehe bewusst?" - "Von Anfang an!", erwiderte der Angesprochene lächelnd. - "Weil es eine Forderung in deiner fundamentalistischen Familie und Gemeinde war, oder aus Angst vor einer eventuellen Strafe Gottes, falls du dich scheiden ließest?", bohrte die Frau weiter. - "Weder das eine noch das andere war und ist der Fall. Es mag euren Ohren fremd klingen: für mich liegt die Unauflöslichkeit meiner Beziehung allein in der Achtung und Wertschätzung eines anderen Lebens und besonders das eines Mädchens begründet. Ich bin mit zwei Brüdern aufgewachsen, habe eine Knabengrundschule besucht und dann ein Gymnasium für Jungen. Mädchen waren ferne, besondere, fremde und zugleich anziehende, liebevolle und wunderschöne Wesen. Traumwesen gewissermaßen in einer anderen Welt. Vermessen schien der Gedanke, ein solches Wesen würde mich mögen, mit mir zusammen sein wollen, oder gar mit mir einen gemeinsamen Lebensweg gehen. Ich verehrte Mädchen zutiefst und begehrte sie vergeblich, unwissend, wie man sich etwas so Schönem nähern könnte. Ich beneidete die, die schon eine Freundin gefunden hatten. Wie toll mussten diese Jungs sein, dass Mädchen sich mit ihnen zusammen taten und sich von ihnen berühren ließen?! (1)
Und als ich dann meine Freundin fand, war das wie eine Explosion, die Knoten um Knoten meines Lebens löste und auseinanderriss, die aber auch sie unerwartet und völlig überraschend traf, denn natürlich hatte sie ebenso wie ich Vorstellungen, Wünsche und Träume, die sie mit Jungen verband. Als Teenager waren wir beide unsicher, wie ein gemeinsamer Weg aussehen könnte, aber jeder war in diesem Alter gerne bereit, Positionen aufzugeben, Kompromisse zu finden und hinzunehmen, was sich offenbar nicht ändern ließ. Versteht ihr: ich hatte mein Glück gefunden, wie töricht, dieses Glück jemals wieder aus der Hand zu geben! Es war unfassbar für mich: ein Mensch, der genau wie ich nur ein einziges Leben hat, war bereit, dieses eine wunderbare Leben mit mir zu teilen! Dieser Mensch wollte erleben, was ich erlebe, mit mir aufsteigen oder untergehen.
Nur mit mir!
Welch gewaltiges Geschenk! Welch tiefe Wertschätzung und große Verantwortung zugleich!
























(1) Diese Einstellung ließ mich dann später zu einem Philanthropen werden, der andere Menschen zutiefst achtet und wertschätzt. Für mich gibt und gab es nie bessere oder schlechtere Menschen, jeder ist in seiner Art besonders, jeder hat etwas liebenswertes, bei jedem gibt es viel zu entdecken und jeder stellt einen erneut vor die Aufgabe, sich in ihn, seine Besonderheiten, seine Schwächen und Stärken, seine Abgründe, seine Ängste und Träume hineinzudenken. Welch spannende Aufgabe!
Näher waren mir dabei stets die Suchenden, ferner die "Hoppla, jetzt komm ich"-Menschen, die stets meinen, auf dem richtigen Weg zu wandeln und alles zu wissen glauben.

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